splace am Hauptplatz, Hauptplatz 6, 4020 Linz
Ausstellungsdauer: 17.11.2021 bis 14.01.2022
Katharina Gruzei beschäftigt sich in ihrer künstlerischen Arbeit mit soziokulturellen Themen sowie in den letzten Jahren zunehmend mit dem öffentlichen Raum.
In ihrer Einzelschau zeigt sie Werke aus Japan, in denen sie sich den Wasserbereichen Tokios widmet. Vor der Kulisse der Metropole siedelt sie ihre Fotoserie über die Tokioter Bucht und ihre Intervention am Ufer des Arakawa Flusses an.
Während Tokio vor allem mit urbanen Stadtlandschaften, Raumknappheit und einer ausufernden Arbeitskultur assoziiert wird, lenkt sie den Blick auf die wenigen urbanen Freiflächen und die Refugien der Erholung und Freizeit.
Öffnungszeiten:
17.12.2021,
20.12. bis 23.12.2021
10.01. bis 14.01.2022
von 15.00 bis 18.00 Uhr
Strände, Parkanlagen, Asphalt, menschenleere Uferzonen – Katharina Gruzeis Aufnahmen zeigen Seiten von Tokio, die den meisten unbekannt sein werden. Im Fokus stehen nicht die dicht aufragenden Hochhäuser, geschäftigen Menschen oder blinkenden Karaoke-Stationen, sondern karge Freiflächen und Orte der Entspannung, an denen die Bewohner:innen ihre Freizeit, ihre „leisure-time“, verbringen.
Dass sie hinschaut, wo andere nicht hinschauen, ist kennzeichnend für Katharina Gruzei. Mehr als für pittoreske Landschaften interessiert sie sich für Lebens- und Arbeitswelten – sei es die Linzer Werft (Bodies of Work, 2017), die Tabakfabrik (Die ArbeiterInnen verlassen die Fabrik | workers leaving the factory (again), 2012) oder die Moskauer Metro (Mir Metro, 2008–2021). Das Thema „Arbeit“ zieht sich wie ein roter Faden durch ihr vielfältiges Werk. Auf den ersten Blick fallen die Leisure Landscapes aus diesem Rahmen heraus. Allerdings nur auf den ersten Blick, denn „leisure“ definiert sich im Kontrast zu „work“, oder, wie Theodor W. Adorno es in einem Radiovortrag 1969 formuliert: „Freizeit ist an ihren Gegensatz gekettet. Dieser Gegensatz, das Verhältnis, in dem sie auftritt, prägt ihr selbst wesentliche Züge ein.“ (Adorno 1969: 57) Ohne Arbeit gibt es keine Freizeit, aber auch dieses vermeintliche Residuum ist durch das ökonomische Regime geprägt. Erholung dient der Regeneration der Arbeitskraft und muss selbst effizient sein, entsprechend wird sie quantifiziert und konsumiert. Adorno (der die Frage nach seinen „Hobbies“ perhorresziert) geht noch weiter, indem er schon die Trennung von Arbeit und Freizeit als Ausdruck einer bürgerlich-kapitalistischen Ethik betrachtet. Angesichts der heutigen neoliberalen Vereinnahmung des gesamten Lebens möchte man diese Einschätzung vielleicht nicht mehr teilen. Trotzdem bleiben Adornos Thesen aktuell, nicht zuletzt seine am Ende des Vortrags geäußerte Hoffnung, dass irgendwann einmal Freizeit doch noch in Freiheit umschlage.
Auch am Tokioter Strand wird die Grenze zwischen Arbeit und Freizeit nicht streng gezogen: Geschäftsleute verbringen dort ihre Mittagspausen oder führen Dienstgespräche am Handy, ein Mann in Uniform schaut nach dem Rechten, Nannys spielen mit Kindern. Gerade die japanische Gesellschaft definiert sich stark über das Arbeiten. Katharina Gruzei hat immer wieder Menschen mit Aktentaschen beobachtet, die in Ubahnen oder im öffentlichen Raum erschöpft einschlafen. Wohl nirgends sonst gibt es ein eigenes Wort für den „Tod durch Überarbeitung“: Karōshi. An den Stränden von Odaiba, so würde Adorno wohl sagen, regenerieren die Menschen sich, um bald wieder produktiv sein zu können. Aber die Bilder von unbeschwerten, in Gespräche vertieften, fischenden und badenden Menschen oder die sinnliche Aufnahme eines Jungen, der sich mit geschlossenen Augen vom Wasser tragen lässt, suggerieren doch auch etwas anderes. Vorschein von Freiheit in der Freizeit?
In neueren Theorien wurde immer wieder versucht, „leisure“ oder „Muße“ aus der Abhängigkeit von Arbeit zu lösen oder zumindest ein Kontinuum von leisure bis non-leisure zu beschreiben, in dem Erwerbsarbeit nur eine Stufe bildet. Von John Neulinger stammt die einflussreiche Definition von „leisure“ als Bewusstseinszustand: „Leisure is a state of mind; it is a way of being, of being at peace with oneself and what one is doing. It is doing what one wants to do and what one chooses to do.“ (Neulinger 1974: xv) Freizeit ist demnach nicht „not-work“, nicht der Rest, der nach Abzug der Arbeitszeit von der Woche übrigbleibt, sondern eine Gemütsverfassung, mit der man Tätigkeiten als intrinsisch motiviert und frei empfindet. „Leisure has one and only one essential criterion, and that is the condition of perceived freedom.” (ebd.: 15)
Welche Rolle spielt in diesem Zusammenhang Landschaft? Denkt man etwa an Bade- oder Skiurlaube, sind Meer und Berge nicht nur Hintergrund, sondern Bedingung und Verstärker des „leisure state of mind“. In einem Aufsatz über „landscapes of leisure“ kehren Sean Gammon und Sam Elkington die Perspektive um und fragen, wie Landschaft wahrgenommen wird, wenn sie durch „die Linse der Muße“ – „the lense of leisure“ – betrachtet wird. (Gammon/Elikington 2019: 368) Es gehört zu den Grundeinsichten der Landschaftstheorie, dass „Landschaft“ nicht einfach ein Stück Natur ist, sondern Betrachter:innen voraussetzt, die heterogene Teile zu einer subjektiven Einheit verbinden. Dies wiederum setzt eine ästhetische Einstellung voraus, die man nicht hat, wenn man die Umgebung unter der Perspektive ihrer Bewirtschaftung betrachtet. Die Wahrnehmung einer Landschaft ist maßgeblich durch Bilder und Erinnerungen geprägt. Auf den ersten Blick kollidiert Odaiba Beach mit unserer Erwartung an Strand und Meer. Ähnlich wird es vielen gehen, die zum ersten Mal zum Linzer Donaustrand kommen. Der Vorteil an solchen land- oder seascapes aber ist es, dass sie mehr oder weniger denen gehören, die dort leben.
Katharina Gruzeis Kameraauge ist am Strand selbst nicht im „leisure state of mind“: Es ist das Auge einer teilnehmenden Beobachterin, die selbst einer Profession nachgeht, bei der sich die Grenzen zwischen work und leisure nie klar ziehen lassen.
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Das Eröffnungsbild zeigt eine Art grünes Paradies im Wortsinn des persischen pairi-daeza, einen abgeschlossenen Raum. Vor der fahl-grauen Skyline aus Bürotürmen, Immigration Office und den Ausläufern des Tokioter Hafens erscheint die dicht bewachsene Insel fast unwirklich. Das Eiland ist eine von fünf, Mitte des 19. Jahrhunderts zu Verteidigungszwecken angelegten Kanonenbatterien (jap. „daiba“) und hat heute den Status eines Naturreservats. Die analoge Fotografie ist in der Ausstellung so auf Wand und Boden angebracht, dass die eigentlich unbegehbare Insel zugänglich wird. Betreten werden kann dadurch auch ein kleines Stück Sandstrand, den der Pazifik angeschwemmt hat.
Ein künstlicher Strand steht im Zentrum der Fotoserie, die in Form von zwei Diaprojektionen gezeigt wird, die miteinander korrespondieren. Er befindet sich an der Insel Odaiba, die im Zuge des Wirtschaftsbooms der 80er und frühen 90er Jahre durch Landgewinnungsmaßnahmen aus zwei Kanoneninseln angelegt wurde. Noch vor der Fertigstellung der geplanten, futuristischen Tokio Teleport Town allerdings war der Boom zu Ende und die Gegend verwaiste, bis man sich entschied, sie zu einem Einkaufs- und Unterhaltungsviertel umzugestalten, wozu auch die Anlage eines Badestrands gehörte.
In ebenso sachlichen wie sensiblen Bildern zeigt Katharina Gruzei die Nutzung dieses Strandes aus unterschiedlichen Perspektiven: in Nahaufnahmen, Weitwinkeln und Ansichten von schräg oben sehen wir Menschen, die fischen, plaudern, spielen, baden oder auch nur mit hochgeraffter Kleidung ihre Füße kühlen. Aufgrund der heiklen Wasserqualität – in der Aufnahme eines planschenden Jungen sieht man verdächtigen Schaum – war das Baden in der Vergangenheit immer wieder verboten. Im Zuge der Bewerbung um die Ausrichtung der Olympischen Spiele allerdings wurde der Strand als unbedenklich freigegeben und bei den Sommerspielen 2021 schließlich auch für den Triathlon genutzt.
Andere Fotografien sind im Kasai Rinkai Park entstanden, der zweitgrößten Grünfläche der Stadt, auf der sich auch der Tokyo Sealife Park befindet. Abgesehen von der mit den Jahreszeiten wechselnden Bepflanzung ist der Park durch ein Riesenrad und eine monumentale Aussichtsplattform geprägt, von der aus man an klaren Tagen den Fuji sehen kann, an diesigen zumindest eine andere leisure landscape, nämlich Tokyo Disneyland am anderen Ufer. Mehrere Perspektiven beziehen ihren Reiz aus dem Gegensatz zwischen ‚Natur‘ und urbaner Infrastruktur: In einer Aufnahme etwa bilden die ruhig lagernden Inseln ein Pendant zu der mächtigen, doppelstöckigen Autobahnbrücke, zwischen deren veralgten Stützen Ausflugsbote über das metallisch glänzende Wasser kreuzen. Immer wieder ist es das Licht, das die heterogenen Elemente dieser ‚Landschaften‘ verbindet.
Das Format der Diaschau erinnert an die berühmt-berüchtigten Diaabende der 70er/80er Jahre, an denen glücklich aus dem Urlaub Zurückgekehrte stolz ihre Eindrücke präsentierten. Die lebhaft kommentierten Fotos waren Beweis des Dagewesenseins, Erinnerungsstützen, aber auch Trophäen und Statussymbole. Die Bildsprache gehorchte bestimmten Konventionen, so dass das Publikum zu sehen bekam, was es erwartete und was die Gereisten selbst schon erwartet hatten. Mit solchen Konventionen brechen Katharina Gruzeis Diaprojektionen, die ein wenig das Gefühl eines Spaziergangs vermitteln, bei dem der Blick auf unterschiedliche Szenerien fällt. Das rhythmische Knacken der Projektoren hat etwas Nostalgisches, das zu der Entschleunigung passt, die sich am Strand einstellt.
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Neben den fotografischen Arbeiten zeigt Katharina Gruzei das achtminütige Video Urban Reflectors (2019), das wiederum Randzonen Tokios zum Schauplatz hat. In vier Einstellungen, bei denen auf den jeweiligen establishing shot der feststehenden Kamera ein close-up folgt, werden vier fast menschenleere, dystopische Orte gezeigt. Die erste Szenerie ist eine eingezäunte, asphaltierte Freifläche in der sonst dicht bebauten Stadtlandschaft. Der diesige Himmel ist von Leitungen durchzogen; keine Bewegung bis auf eine Radfahrerin und eine Krähe im Hintergrund. Dann beginnt ein merkwürdiges, silbriges Bündel auf dem Asphalt, sich langsam zu bewegen. Das amorphe Etwas bauscht sich auf, entwickelt ein Eigenleben, das ein wenig an die tanzende Plastiktüte in der berühmten Szene aus Sam Mendes‘ American Beauty erinnert. Nach einem Schwarzbild wechselt die Szenerie: Die Kamera blickt auf das karge Ufer des Arakawa, zu deutsch „Wilder Fluss“, der hier domestiziert durchs Bild führt. Wieder steht die Kamera still, Bewegung kommt durch die Fahrzeuge auf den futuristisch gekreuzten Brücken und die vom Wind gestreiften Gräser ins Bild. Doch reicht dieser leise Wind, um die Folie derart aufzublähen?
Solche silbrigen Hüllen sind im Tokioter Stadtbild omnipräsent: sie schützen parkende Autos, Motor- und Fahrräder und entsprechen der Sorgfalt, mit der man in Japan Dinge verpackt. Ist das behutsame Umwickeln ein Ausdruck von care, erscheint das Bündel hier eher verwaist. Die wenigen Passanten betrachten es befremdet oder bemerken es nicht, auch eine Katze schleicht unbeeindruckt vorbei. Ein wenig erinnert die Form an Inflatables, die in Japan wie in Amerika für Geschäfte oder Produkte werben. Andererseits aber weckt das Gebilde auch Assoziationen an pneumatische Skulpturen wie jene von Jeffrey Shaw, Haus-Rucker-Co und Kusama Yayoi oder an die atmenden Tüten von Nils Völkers.
Der auf field recordings basierende Soundtrack schafft von Anfang an eine unheimliche Atmosphäre. Erst gegen Ende des Videos wird durch die Untertitelung verständlich, dass die unbestimmten Klänge und Lautfetzen von Durchsagen stammen, die den öffentlichen Raum japanischer Städte maßgeblich prägen. Die allerorts angebrachten Megaphone sollen Menschen im Notfall (vor allem bei den häufigen Erdbeben) warnen, fungieren aber auch als politisches Disziplinierungsinstrument. Die regelmäßigen Hinweise kommen einer akustischen Besetzung der Freiflächen gleich. Was man im Soundtrack hört, ist der Aufruf an die Bevölkerung, Maßnahmen zur Vermeidung von Hitzschlägen zu treffen: genug zu trinken, die Klimaanlage einzuschalten etc. Das Video endet mit der Aufforderung an Kinder, nun nach Hause zu gehen: „It‘s 5:30 p.m. Children should go home now.“ Vor diesem akustischen Hintergrund erscheinen die zwei Mädchen in Schuluniform, die, von den Durchsagen unbeeindruckt, mit einem Selfiestick lachend umeinander wirbeln, wie ein Vorschein oder auch nur eine Parodie der Freiheit, von der Adorno hoffte, dass Freizeit sich irgendwann einmal in sie verwandeln möge.
Theodor W. Adorno (1969): Vortrag im Deutschlandfunk, gesendet am 25. Mai 1969; erstmals publiziert in der Sammlung Stichworte. Kritische Modelle 2, Frankfurt/M., S. 57–67.
Sean Gammon/Sam Elkington (2019): Landscapes of Leisure. A View Worth Seeing? In: The Routledge Companion to Landscape Studies, hrsg. von Ian Thompson u.a., London, S. 366–375.
Wybe Kuitert (2015): Borrowing scenery and the landscape that lends—the final chapter of Yuanye. In: Journal of Landscape Architecture 10, S. 32–43.
John Neulinger (1974): The Psychology of Leisure. Research Approaches to the Study of Leisure, Springfield/Ill.
Günther Vogt/Violeta Burckhardt (2021): Paradise Now. Die neuen Grenzen des Gartens, Berlin (De Natura; 7).