Rainer Nöbauer-Kammerer
Ironic Turns


Eröffnung: 06.03.2023, 18.30 Uhr
Ausstellung: 07.03. bis 30.06.2023
IFK, Reichsratsstr. 17, 1010 Wien

Rainer Nöbauer-Kammerer
Ironic Turns

Eröffnung: 06.03.2023, 18.30 Uhr
Ausstellung: 07.03. bis 30.06.2023
IFK, Reichsratsstr. 17, 1010 Wien

Eröffnung: Thomas Macho, Direktor des IFK, Internationales Forschungszentrum Kulturwissenschaften / Kunstuniversität Linz in Wien

Subtil erarbeitet Rainer Nöbauer-Kammerer eine Ästhetik des Widerstands – ohne diese per se als solche zu benennen. In seiner ersten Einzelausstellung in Wien am IFK zeigt der Künstler in der Ausstellung IRONIC TURNS einen Querschnitt seiner Installationen und Interventionen. Das gleichnamige Buch (de/en), das 26 Arbeiten des Künstlers umfasst, mit Texten von Ursula Maria Probst und Georg Wilbertz,  feiert ebenfalls Wien Premiere.

Nach seiner Ausbildung zum Bildhauer studierte Rainer Nöbauer-Kammerer, *1979, Bildende Kunst und Kulturwissenschaften an der Kunstuniversität Linz. Die in seinen künstlerischen Projekten verwendeten Materialien bezieht er teils aus städtischen Ressourcen. Kategorisierungen aufzulösen, Disziplinen wie Natur- und Kulturwissenschaften in Beziehung zu vorgefundenen Situationen setzen, Kunst im öffentlichen Raum und den Umgang mit Denkmalkultur skeptisch zu reflektieren und durch neue Zugänge zu erweitern, zählen zu seinen interdisziplinären Praktiken.

Öffnungszeiten: Mo bis Do, 10.00 bis 16.00 Uhr; Fr, 10.00 bis 13.00 Uhr (werktags)

Eine Ausstellung im Rahmen von »forum presents: IFK_art«

Ausstellungsansichten (Fotos: Violetta Wakolbinger)

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Einführung in die Ausstellung von Thomas Macho, Direktor des IFK

 Im Namen des IFK und seiner Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter begrüße ich Sie sehr herzlich zum Beginn des Sommersemesters 2023 und zur Vernissage von Rainer Nöbauer-Kammerer, den ich einleitend kurz vorstelle. Rainer Nöbauer-Kammerer hat zunächst Bildhauerei und danach Bildende Kunst und Kulturwis­senschaften an der Kunstuniversität Linz studiert. Im Mittelpunkt seiner künst­lerischen Projekte stehen Arbeiten im öffentlichen Raum, die als ortsbezogene Denkanstöße und kritische Interventionen wirken. Rainer Nöbauer-Kammerer hat eine Vielzahl von Stipendien, Residencies und Auszeichnungen erhalten; und er hat nicht nur zahlreiche eigene Ausstellungen realisiert, in Österreich, Japan, Hongkong, Deutschland und in der Schweiz, in Schottland, in den Nie­derlanden, Frankreich oder Tschechien, sondern auch Ausstellungen kuratiert und inszeniert, beispielsweise in seiner Tätigkeit für die Künstler- und Künstle­rinnenvereinigung MAERZ.
Die IFK_Ausstellung »Ironic Turns« wird begleitet von einem Künstlerbuch mit demselben Titel, das 2022 in Dresden (bei b/pp) erschienen ist. Ich selbst wer­de nun einige ausgewählte Werke kurz kommentieren, die Sie – dokumentiert durch Fotografien und Objekte – sowohl in unserer Ausstellung als auch in dem eben erwähnten Künstlerbuch besichtigen können.

Beginnen wir mit der Serie »Ich DENK-MAL« (2013 – 2015). Gewöhnlich gelten Denkmäler als Zeichen der Erinnerung. Tatsächlich affirmieren sie jedoch das Vergessen. Erinnert wird, dass ein erinnerungswürdiges Ereignis unweigerlich in Vergessenheit geriete, würde es nicht – durch einen Stein – dem Vergessen regelrecht abgetrotzt. Er­innert wird, dass etwas vergessen wurde, und häufig wirkt diese Erinnerung nicht als Korrektur, sondern als Bezeugung der Vergesslichkeit. Wer kennt nicht die sentimentalisch-nostalgischen Empfindungen, die uns auf Friedhofsbesu­chen erfassen, inmitten eines Meers von halbverwitterten Steinen zwischen lauter gescheiterten Bekundungen der Unvergesslichkeit? Grabsteine zeigen – wie alle Denkmäler – gerade so viel, wie die Betrachtenden wissen. Sie wirken nicht als Wegweiser und nicht als pädagogische Exempel: Erinnerungssteine, die an nichts erinnern. Beschriftet mit Name und Datum verweigern sie alle Auskünfte. »Das Datum ist ein Zeuge«, sagt Jacques Derrida. Aber es zeugt von nichts. Auch der Tod ist nur ein Datum, leicht verwechselbar mit dem Datum der Geburt. Zahlen und Buchstaben codieren ein Hier und Jetzt ohne Inhalt; sie verschlucken alle Bestimmungen. Nicht selten machen wir vor den Denkmälern prominenter Persönlichkeiten ein Selfie, als wollten wir unsere Präsenz und un­ser Erinnerungsvermögen demonstrieren, aber auch die Differenz zwischen un­seren lebenden Körpern und den steinernen Statuen. Rainer Nöbauer-Kamme­rer hat dreißig Denkmäler mit Aluminiumfolien seines eigenen Gesichts über­klebt; die Folie erinnert geradezu an eine vom Schädel abgezogene Haut, wie Ursula Maria Probst in ihrem Essay zu Nöbauer-Kammerers Arbeiten bemerkt. Identität, so könnten wir schließen, setzt immer schon Identifikationen voraus.

In eine ähnliche Richtung zielt das Projekt »I am Tank Man« (2019). Nöbauer-Kammerer bezieht sich mit diesem Projekt auf die Fotos eines bis heute unbe­kannten Manns, der sich mit zwei Einkaufstüten am 5. Juni 1989 einer Panzer­kolonne auf der Chang’an Avenue in den Weg stellte, nahe beim Tian’anmen-Platz im Zentrum von Peking. Am 3. und 4. Juni 1989 hatte das Militär die fried­lichen, ursprünglich von einer studentischen Demokratiebewegung ausgehen­den Proteste auf dem »Platz des himmlischen Friedens« gewaltsam niederge­schlagen; im Zuge des sogenannten Tian’anmen-Massakers wurden mehr als zweitausend Menschen in Peking getötet. »I am Tank Man«: Eine lebensgroße Fotografie des unbekannten Manns vor mehr als dreißig Jahren, nun aber auf einer Holzplatte mit ausgeschnittenem Gesicht, animiert die Betrachtenden dazu, das eigene Gesicht an die leere, offene Stelle zu rücken. Die Identifikation erfolgt als Projektion, als eine Art von symbolischem Reenactment, als Protest, wie er auch schon vor Rainer Nöbauer-Kammerers Intervention in der tschechi­schen Stadt Česky Krumlov, häufig praktiziert wurde.

Im selben Jahr 2019 entsteht eine ganz andere Kunst-Intervention am Platz der »Martyrs-de-la-Résistance« in Montpellier. Eine skulpturale, drei Meter hohe, leere Vase auf diesem Platz fungiert nun als Eierbecher, als Trägerin für ein Ei: »Œuf«. Das Ei, daran erinnert der Künstler, galt in zahlreichen Epochen und Kulturen als Symbol des Neuanfangs; und obwohl der steinerne Becher an das Essen eines Eis auf dem Frühstückstisch erinnert, so denken wir doch stets auch an die Möglichkeit des Vogels, der die Schale sprengt, um irgendwann danach die Flügel zu spreizen und in die Luft aufzusteigen. Das Ei wirkt als Versprechen einer nahen oder fernen Zukunft. Ich selbst muss bei der Betrachtung des »Œuf« an eine Erzählung der brasilianischen, in der Ukraine geborenen Dichte­rin Clarice Lispector denken; dieser Text wurde vor wenigen Jahren in einer zweibändigen Ausgabe ihrer Erzählungen, neu übersetzt von Luis Ruby, publi­ziert – und er trägt den Titel: Die Henne und das Ei. Die Erzählung beginnt mit den folgenden Zeilen: »Morgens in der Küche sehe ich auf dem Tisch ein Ei. Ich erblicke das Ei mit einem einzigen Blick. Auf der Stelle merke ich, dass man ein Ei nicht dauerhaft ansehen kann. [...] Das Ei zu sehen ist unmöglich: Das Ei ist über-sichtbar, so wie es Überschallgeräusche gibt. [...] Die Liebe zum Ei ist über-sinnlich. Wir wissen nicht, dass wir das Ei lieben. [...] Das Ei ist die Seele der Henne.«[1] Ist das Ei in Montpellier ein Denkmal der Möglichkeiten, der Zu­kunft, der Befreiung?

In den Jahren 2018 und 2019 – also noch vor Beginn der Covid-Pandemie – hat sich Rainer Nöbauer-Kammerer mit einer »Sammlung der Kleinsten«, jeweils an bestimmten Orten – beschäftigt: Was er ausstellte und dokumentierte, waren Fotos von Mikroorganismen oder Glasobjekte mit Kulturen von Pilzen und Bak­terien. Schon der Philosoph, Physiker und Mathematiker Blaise Pascal wusste: »Die ganze sichtbare Welt ist nur ein unmerklicher Zug in der weiten Höhlung des Alls. Keinerlei Begreifen kommt ihr nahe.« Doch auf der anderen Seite öff­nen sich neue Abgründe im Winzigsten: »Nicht nur das sichtbare Weltall will ich zeichnen, sondern auch die Unermesslichkeit, die man im Bereich des immer verkürzten Atoms von der Natur erfassen kann.« Pascal kannte Fernrohre und Mikroskope, die ihn über die Position des Menschen belehrten: »Denn, was ist zum Schluss der Mensch in der Natur? Ein Nichts vor dem Unendlichen, ein All gegenüber dem Nichts, eine Mitte zwischen Nichts und All. Unendlich entfernt von dem Begreifen der äußersten Grenzen, sind ihm das Ende aller Dinge und ihre Gründe undurchdringlich verborgen, unlösbares Geheimnis; er ist gleich unfähig, das Nichts zu fassen, aus dem er gehoben, wie das Unendliche, das ihn verschlingt.«[2] Das Kleinste, das Unscheinbarste, bildet freilich nicht nur den An­lass für Melancholie oder Ironie, sondern auch für eine Reflexion dessen, was uns – zwischen »Nichts und All« – miteinander verbindet. »Where the Green Grass Grows«, die jüngste Arbeit Rainer Nöbauer-Kammerers aus dem Jahr 2023, nicht enthalten im erwähnten Künstlerbuch von 2022, vergleicht Gras­büschel aus Brüssel und London. Die beiden Grasbilder sehen einander zum Verwechseln ähnlich und werden somit zu Bildern einer Nähe und Verwandt­schaft, die allemal bedroht werden von Nationalismus und einer Hysterie der Abgrenzung. Die Erinnerung an Albrecht Dürers »Großes Rasenstück« (von 1503) drängt sich auf, an die Künste der Verwandlung vernachlässigter, kaum beachteter Natur in lebensnahe Bilder. Pflanzen, Tiere und Sterne kennen keine Staatsgrenzen; davon erzählt Wisława Szymborskas Gedicht »Psalm«:

»Wie undicht sind doch die Grenzen menschlicher Staaten!
Wie viele Wolken treiben straflos darüber hinweg,
wieviel vom Sand der Wüsten rieselt von Land zu Land,
wie viele Bergsteine purzeln auf fremde Ländereien
in frechem Gehüpf!

Muss ich hier jeden Vogel erwähnen, wie er fliegt
oder wie er sich eben setzt auf den gesenkten Schlagbaum?
Und wäre es gar ein Spatz – schon ist sein Schwänzchen drüben,
sein Schnabel aber noch hüben. Und obendrein – wie er sich plustert!

Von ungezählten Insekten nenne ich nur die Ameise,
die zwischen dem linken und rechten Schuh des Grenzpostens
auf dessen Frage: woher, wohin – sich zu keiner Antwort bequemt.

Oh, dieses ganze Durcheinander auf einmal,
auf allen Kontinenten!
Schmuggelt da nicht vom anderen Ufer die Rainweide
das hunderttausendste Blatt über den Fluss?
Wer sonst als der Tintenfisch, langarmig, dreist,
verletzt die heilige Zone der Hoheitsgewässer?

Kann überhaupt von Ordnung gesprochen werden,
wo man nicht einmal die Sterne ausbreiten kann,
damit man weiß, wem welcher leuchtet?

Und dann das tadelnswerte Sich-Breitmachen dieses Nebels!
Das Stauben der Steppe überallhin,
als wäre sie nicht in der Mitte geteilt!
Und das Tragen der Stimmen auf willigen Wellen der Luft:
des Lock-Gepiepses und des bedeutsamen Glucksens!

Nur das, was menschlich ist, kann wahrhaft fremd sein.
Der Rest ist Mischwald, Maulwurfsarbeit und Wind.«[3]


[1]  Clarice Lispector: »Die Henne und das Ei«. In: Tagtraum und Trunkenheit einer jungen Frau. Sämtliche Erzählungen I. Her­ausgegeben von Benjamin Moser. Aus dem brasilianischen Portugiesisch übersetzt von Luis Ruby. München: Penguin Ver­lag 2019. S. 303–313; hier: S. 303 f.
[2]  Blaise Pascal: Über die Religion und über einige andere Gegenstände. Herausgegeben und aus dem Französischen über­setzt von Ewald Wasmuth. Frankfurt am Main: Insel 1987. S. 41 und S. 42 f. (§ 72).
[3]  Wisława Szymborska: »Psalm«. In: Hundert Freuden. Gedichte. Herausgegeben und aus dem Polnischen übersetzt von Karl Dedecius. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1996. S. 49 f.